Darstellung skripturaler Minderheiten

Theorie

Die Einordnung dessen, was als ‚Mehrheit‘ oder ‚Minderheit‘ zu qualifizieren sei, ist – außerhalb eines alltagsideologischen Verständnisses – ein komplexes Unterfangen. So schreibt Busch (2022) etwa:

„Die Kategorie Minderheitensprache wird dadurch geschaffen, dass eine binäre Opposition, ein begrifflicher Gegensatz zu einer Kategorie Mehrheitssprache konstruiert und damit eine Hierarchisierung, eine asymmetrische Differenzmarkierung vorgenommen wird. [. . .] Aus poststrukturalistischer Warte lässt sich sagen, dass Minderheitensprache das ausgeschlossene Andere, das konstitutive Außen darstellt, durch das die hierarchisch übergeordnete Kategorie Mehrheitsprache als Normalität konstituiert wird und sich ihrer inneren Homogenität versichern kann. Mit der Benennung der Kategorie Minderheitensprache wird aber zugleich ausgeschlossen und unsichtbar gemacht, was sich dieser binären Opposition entzieht. Das wären zum Beispiel Menschen, die sich dem Sowohl-als-auch oder dem Weder-noch zuordnen.“ (Busch 2022: 57–58)

Ausstellungstafel in Braille-Schrift

So gilt diese Feststellung natürlich nicht nur für gesprochene, sondern auch für geschriebene Sprache und so kann davon ausgegangen werden, dass auch die Brailleschrift und deren Nutzende innerhalb dieser Dichotomie verortet werden und Sprachideologien unterliegen.

Wie Kroskrity (2005) aufzeigt, existieren unterschiedliche Definitionen, mit welchen Sprachideologien theoretisch gefasst werden können. So definiert etwa Silverstein Sprachideologie als „sets of beliefs about language articulated by users as a rationalization or justification of perceived language structure and use“ (Silverstein 1979: 193 zid. n. Kroskrity 2005: 497). Diese Definitionen berücksichtigen jedoch grundsätzlich nicht die geschriebene Sprache, welche nach Dürscheid (2016) und Meletis (2020) eine graphische Repräsentation von Sprache darstellt. Das Konzept der Sprachideologie wurde von Spitzmüller (2013) in der Folge auf graphische Repräsentation von Sprache ausgedehnt, weshalb wir uns auf die folgende Definition zu Graphie-Ideologien berufen:

„Menge der Annahmen und Werthaltungen, welche von Kommunikationsakteuren als Begründung oder Rechtfertigung für den Gebrauch oder den Nichtgebrauch bestimmter graphischer Mittel/Varianten, als Begründung für die Bewertung von Akteuren, welche diese Mittel/Varianten gebrauchen oder nicht gebrauchen, sowie hinsichtlich Sinn und Bedeutung dieser graphischen Mittel/Varianten geäußert werden.“ (Spitzmüller 2013: 286)

Laptop mit Braile-Zeile davor

Diese Definition stellt das kommunikative Handeln von Akteur*innen in den Vordergrund und macht gleichzeitig das Spannungsfeld deutlich, in welchem sich Akteur*innen und graphische Mittel (Schrift) befinden, wodurch aber diese Prozesse zu gesellschaftspolitischen Prozessen werden. Um politische Prozesse zu beschreiben, hat sich die Unterscheidung dreier Ebenen als nützlich erwiesen:

  • Polity: Sie „bezeichnet die formale Dimension, die Struktur oder den Rahmen von Politik, ihr Institutionen- und Normengefüge“ (Donges & Jarren 2022: 5).
  • Politics: Sie „meint die verfahrensmäßige Dimension oder den Prozess. In dieser Dimension geht es also vor allem um die Frage, wie einzelne Akteure [. . .] ihre Interessen durchzusetzen versuchen. Bei der Analyse werden vor allem Machtverhältnisse, Akteurskonstellationen und Konflikte betrachtet“ (Donges & Jarren 2022: 5).
  • Policy: Sie „bezeichnet die Inhalte von Politik, die ‚Planung, Durchführung und Überprüfung konkreter politischer Gestaltungsaufgaben‘ (Mols 2018, S.27) in konkreten Politikfeldern“ (Donges & Jarren 2022: 5).

Die Ideologien, die wir untersuchen, sind demnach hauptsächlich auf den Ebene der Politics und der Policy zu verorten. Symbolpolitik macht aber eben auch von Symbolen Gebrauch. Nach Burks (1949) geht der Peircesche Symbolbegriff davon aus, dass ein Zeichen durch eine konventionalisierte Regel bei den Interpretant*innen ein Zeichen und ein Objekt verbindet.

In Folge dieser Ausführungen verstehen wir unter Symbolpolitik ‚den Einsatz konventionalisierter Zeichen, auf Ebene der Politics oder Policy‘. Die von Kleege (2006) beschriebenen Nutzungskontexte der Brailleschrift können somit als jene „asymmetrische Differenzmarkierung“, die Busch (2022) beschreibt erachtet werden, sodass es sich bei den Nutzenden der Brailleschrift um eine skripturale Minderheit handelt.

Bodenleitsystem mit der Aufschrift "Look Right" und einem Pfeil nach rechts

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